Weimar

In Weimar kam es zu einem massiven Angriff von über 150 bewaffneten Neonazis auf das besetzte Haus in der Gerberstraße 3. Die Besetzer:innen hatten ihr Haus verbarrikadiert und konnten sich erfolgreich verteidigen…

Weimar

In Weimar kam es zu einem massiven Angriff von über 150 bewaffneten Neonazis auf das besetzte Haus in der Gerberstraße 3. Die Besetzer:innen hatten ihr Haus verbarrikadiert und konnten sich erfolgreich verteidigen.

Vorboten

Das Haus war am 17. März 1990, einen Tag vor der ersten freien Volkskammerwahl der DDR, von zumeist jungen Punks, Anarchist:innen und anderen unabhängigen Linken besetzt worden. Es entwickelte sich schnell zum Zentrum der neuen radikalen Linken in Weimar.

Von Beginn an wurde „die Gerber“ Zielscheibe der immer weiter eskalierenden rechten Gewalt. Schon im April und im Juli 1990 griffen jeweils über 200 Neonazis das besetzte Haus mit Steinen und Molotow-Cocktails an.1Annette Rogalla: „Wer nicht rechts ist, ist links“, in: DIE ZEIT, Nr. 50/1992, 4.12.1992, Online: https://www.zeit.de/1992/50/wer-nicht-rechts-ist-ist-links. Am Abend der Wiedervereinigung sollte der dritte große Angriff folgen.

Das besetzte Haus in der Gerberstraße 3 im April 1991.2Bildrechte: CLAUS BACH, Weimar.

Dass es zu diesem Angriff kommen würde, hatte sich im Vorfeld bereits herumgesprochen. Die Hausbesetzer:innen bereiteten sich entsprechend vor: Das Haus wurde u.a. mit Stahlplatten verrammelt und verbarrikadiert. Die Besetzer:innen sammelten sich im Haus und bewaffneten sich.


Der Angriff auf das besetzte Haus Gerber 3

Am späteren Abend des 2. Oktober 1990 näherten sich die Neonazis von drei Seiten koordiniert dem besetzten Haus. Der Mob umfasste nach Presseangaben mindestens 100 bzw. 150 und nach Angaben der Zeitzeugen 200 bis 300 Personen. Unter ihnen befanden sich „auch viele Zugereiste“, so die TLZ am 4. Oktober 1990. Sie hatten Kanister und Fackeln dabei und griffen das Haus u.a. mit Pflastersteinen, Molotow-Cocktails und Gaspistolen an. Dabei riefen sie, so heißt es im selben Artikel weiter, „Parolen gegen Ausländer, Kommunisten und weitere Andersdenkende.“3„Rechtsradikale randalierten“, in: TLZ, 4.10.90, S. 3.

Die Besetzer:innen wehrten sich und warfen Flaschen, Steine, Ziegel und ätzende Flüssigkeit aus den Fenstern und vom Dach. Die Molotow-Cocktails, die sich im besetzten Haus befanden, setzten sie nicht ein.

Die Belagerung und die Schlacht um das Haus dauerten mindestens eine Stunde an, bis ein Zug der Bereitschaftspolizei aus Erfurt samt Hundestaffel die Neonazis vertrieb.

Die Neonazis während des Angriffs auf das besetzte Haus in Weimar am 3. Oktober 1990. Die Straße brennt von ihren eigenen Molotow-Cocktails.4Bildrechte: CLAUS BACH, Weimar.

Zeitzeugen-Interviews

Interview mit Volle

Volle im Sommer 2020 in Jena

Ein Bewohner der Gerber zu dieser Zeit war „Volle“. Er hatte 1979 mit den „Madmans“ eine der ersten Punk-Bands der DDR mitgegründet und engagiert sich seitdem als Punker und Anarchist. Er hat das Haus in der Gerberstraße 3 mitbesetzt und erinnert sich an den Angriff vom 2. Oktober 1990:

„Naja, also sonst sind sie ja immer von oben gekommen, also vom Goetheplatz oder von der Altstadt über die Marstallstraße. Diesmal sind sie aber von oben, von unten und von hinten vom Brühl aus gekommen. Das war wirklich offensichtlich ganz gezielt. Die haben ja auch aus ihren Erfahrungen ein bisschen gelernt. Wir aber auch. Und wir haben halt mit allem geworfen, was wir hatten. Wir hatten auch so eine kleine Überraschung für die. Jemand von uns hatte in der Desinfektion in der Klinik gearbeitet, und da gab es so ein Desinfektionsmittel, und das hatten wir halt Tage vorher, richtig mit Gasmasken, bei uns im Haus in so Bockwurstgläser – wir haben damals in der Kneipe noch Bockwürste verkauft – gefüllt. Und da haben wir halt dieses Desinfektionszeug 1:10 gemischt und in die Schraubgläser abgefüllt – und als die dann kamen halt denen vor die Füße geworfen. Also du hast dann einfach geheult, sofort. Das hat die Augen gereizt ohne Ende. Und die wussten ja nicht, was es ist. Die haben dann ‚Gas‘ geschriehen und hatten totale Panik. Aber die waren halt wieder viele, so 300–400 Leute, und die wollten es auch alle wissen diesmal. Da waren jetzt keine besoffenen Fußballhools dabei, das waren wirklich alles Nazis, die genau uns wollten. Ja, und dann halt erst die Pfandflaschen, äh, die Nicht-Pfandflaschen, dann die Pfandflaschen, diverse Pflastersteine, und als wir gar nichts mehr hatten, auch die Dachziegel. Also alles, was die irgendwie auf Distanz halten konnte, haben wir dann eingesetzt. Und es sind zweimal welche unten vor der Tür gewesen, die ist geschützt von oben. Aber da hatten wir halt vorher wirklich eine Stahlplatte auf die Tür geschweißt, so dass da nichts passiert. Also eigentlich waren wir relativ safe, rein baulich. Aber wenn sie irgendwie eine Lücke gefunden hätten – naja, das wollen wir uns jetzt nicht ausdenken. So war das, so ein Belagerungszustand eben, bis dann irgendwann eine Hundertschaft aus Fulda kam und den Spuk beendet hat.“

Volle im Interview mit zweiteroktober90, 24.7.2020.

Interview mit Claus Bach

Claus Bach im Sommer 2020 in Jena

Ebenfalls Augenzeuge des Angriffs wurde Claus Bach. Er ist seit Mitte der 1970er Jahre Fotograf und hat die Weimarer Gegenkultur ab den 1980er Jahren fotografisch begleitet. In der Wendezeit fotografierte er auch die besetzten Häuser und das Leben darin. Er befand sich während des Angriffs vom 2. Oktober 1990 im Haus und schaffte es, ein Bild von den angreifenden Neonazis zu schießen. Wie es dazu kam, hat er uns im Interview erzählt:

„Und spätestens halb zehn kam dann aber schon aus der 1. Etage jemand runter und brüllte: ‚Jetzt gehts los, jetzt gehts los!‘ […] 

Und ich bekam, das weiß ich noch, so einen Motorradsturzhelm auf, für alle Fälle, und dachte noch: ‚Was soll denn das? Das ist doch albern.‘ – Also so einen richtigen vollen Integralhelm, nicht so ein kleines Ding. – Und ungefähr 10 min später dachte ich mir: ‚Das ist schon okay, dass du das Ding aufgesetzt bekommen hast‘, weil, dann kam schon der ganze Glatzenmob – im Laufschritt, kann man schon fast sagen. Die sind am Anfang alle den Graben, das ist die Straße von der Hauptpost Richtung Gerberstraße, runtergerannt. Und die letzten 20 m davor verlangsamte sich der Zug, und da flogen auch schon die ersten kleinen Pflastersteine, die die Glatzen aus den Fußgängerwegen herausgenommen hatten. […]

Und dann mit einem Schlag musste irgendeiner von den Glatzen – die waren halt zum Teil auch besoffen, das war, etwas zynisch gesagt, auch ein Trauerspiel – einen Molli aus der Hand fallen lassen, und dann hatte ein anderer eine Zigarette… – Kurz gesagt: Dann hattest du auf einmal wie im Film so eine Benzinspur, aus der dann ziemlich schnell eine Feuerspur wurde, und so ist das Foto entstanden. Weil, ich hatte zwar meine Technik mit dabei, aber das wurde alles nichts, jedenfalls nicht mit Blitz usw. Denn man muss wissen, in dieser Oktobernacht war die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass das Blitzgerät auf meiner Kamera so gewirkt hat, als ob ich in Nebel reinleuchte. D.h. man hat gar nichts gesehen. – Es gibt insgesamt zwei Bilder, wo ich den Blitz ausgeschaltet habe – sorry für diese technische Erklärung – und wo dann das Licht nur von diesem Feuer bzw. Molli kam. Eins davon war verwackelt, und das andere habe ich retten können.“

Claus Bach im Interview mit zweiteroktober90, 15.8.2020.

Konsequenzen für die Besetzer:innen abgewendet

Der Angriff auf das besetzte Haus in der Gerberstraße 3 beförderte eine öffentliche Diskussion, in der immer wieder den Hausbesetzer:innen und Linken die Schuld oder eine Mitschuld an der Gewalt gegeben wurde. So schlugen gerade die liberalen und konservativen Politiker:innen vor, das Haus räumen zu lassen und so das Problem zu beenden. Die Besetzer:innen und ihre Unterstützer:innen schafften es jedoch, das Haus zu verteidigen. 1991 wurde auch das Nebenhaus in der Gerberstraße 1 besetzt. Beide Häuser sind bis heute wichtige Zentren der radikalen Linken in Weimar und Thüringen.

Die Polizei führt einen mutmaßlichen Rechten ab.5Foto: TA/F. SÖLLNER, Thüringer Allgemeine, Nr. 220, 4.10.1990, S. 2.
Die Thüringer Landeszeitung berichtet am 4. Oktober 1990 vom Angriff auf die Gerberstraße 3. Darin wird auch der Bürgermeister zitiert, der versicherte, dass „eine polizeiliche Räumung des besetzten Hauses in den nächsten Wochen nicht erfolgen“ werde.6Thüringer Landeszeitung, 4.10.1990.